Das Geheimnis der Weide

Es geschieht an einem naßkalten Herbstabend des Jahres 1798. Die Bewohner des kleinen, abseits gelegenen Berendshofes im Waldgebiet der Westeifel fahren erschrocken in die Höhe, als energische Schritte durch den Hausflur poltern und die Stubentür mit einem Ruck auffliegt.

Im Türrahmen stehen zwei Männer in bäuerlicher Kleidung mit rußgeschwärzten Gesichtern. Die durch die Tarnung doppelt groß erscheinenden Augen der seltsamen Besucher tasten den Raum ab und bleiben auf der Gestalt des Bauern Dietz hängen, der gerade mit den Seinen beim Abendbrot sitzt. Die beiden Männer betreten vollends den Raum, werfen die Tür mit Nachdruck zu und nehmen auf der Bank hinter dem Ofen Platz. Sie sprechen kein Wort, aber ihr Schweigen ist wie eine Frage.
weide1Dietz Berends greift als erster wieder zum Löffel. Das Schweigen in der Stube wiegt schwer, und das Klappern der Löffel in der großen irdenen Schüssel betont nur noch die beklemmende Stille. Die Gäste sind im Schatten des Ofenwinkels nicht mehr zu erkennen, aber jeder glaubt, ihren Blick zu spüren. Als die Hausbewohner das lange Dankgebet zum Schlusse sprechen, hören sie ein murmelndes Mitbeten von der Ofenbank her. Dann fordert der Bauer die Tischgenossen auf, ihn mit den beiden Besuchern allein zu lassen. In der Küche sitzen die junge Frau, der Knecht und die Magd am offenen Herdfeuer. Aus der Stube ist kein Laut zu vernehmen. Die junge Frau schüttelt ein lautloses Weinen, Knecht und Magd starren in die rötliche Glut. Sie alle wissen nur zu gut, was dieser Besuch bedeutet. Seit Wochen ist Aufruhr im Land. Vor drei Jahren waren die Revolutionstruppen der Franzosen gekommen, hatten die Adeligen vertrieben und den Freiheitsbaum in den Dörfern aufgepflanzt. Aber mit der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die die Revolutionäre so wortreich zu predigen wußten, war es nicht weit her gewesen. Die Kriegssteuern betrugen das Doppelte des Zehnten, an die Stelle des Frondienstes trat die Einberufung der Bauernsöhne zur Armee, die Glocken waren verstummt und die Kirchen versiegelt. Schon seit einem Jahr gärte der Aufruhr, und die Zahl der Unzufriedenen wuchs von Tag zu Tag. Geheime Sendboten der Grafen erschienen in den Dörfern und fanden auch die entlegensten Höfe. Sie schürten den Aufruhr und festigten den Widerstand. Sie hielten Versammlungen in den Wäldern ab und drängten die Bauern in die Widerstandsarmee. Wer nicht mitmachen wollte, der hatte alsbald den roten Hahn auf dem Dach. Auch auf dem Berendshofe waren vor einigen Wochen zwei Männer erschienen; ihr Dialekt verwies sie in eine andere Gegend des luxemburgischen Landes. Bauer Dietz aber hatte ein Mittun abgelehnt.

Nicht aus Feigheit. Es schien ihm wenig sinnvoll, mit Dreschflegel und Mistgabel gegen eine wohlgerüstete Armee aufzustehen. Der Bauernstand hatte schon Schlimmeres erduldet, und Gott wird die Bäume schon nicht in den Himmel wachsen lassen! Die beiden Abgesandten der Widerstandsarmee hatten von solchen Argumenten nichts wissen wollen, ihm eine Bedenkzeit gegeben und mit Brandschatzung gedroht. Heute nun war die Bedenkzeit abgelaufen. Drinnen in der Stube entscheidet sich das Schicksal des Berendshofes.
Die Stubentür knarrt, dann ruhige Schritte auf dem Flur. Die junge Frau in der Küche steht zaghaft auf. Eine Frage erübrigt sich, da sie in das Gesicht ihres Mannes blickt. Sie stürzt auf Dietz zu und umklammert ihn, als wolle sie ihn zum Bleiben zwingen. Ihr Körper bebt unter verhaltenem Schluchzen. "Ich kann nicht anders", flüstert Dietz heiser. Seine Hände gleiten beruhigend über das Haar der Frau. "Paß gut auf den Hof und die Kinder auf. Ich komme bald wieder." Aber das Letzte spricht er schon kaum vernehmbar, denn der Kummer schnürt ihm die Kehle zu und treibt ihm die Tränen in die Augen. Dann reißt er sich mit einer verlegenen Gebärde los. Er verschwindet im Dunkel des Hausflures, und das letzte, was die Zurückgebliebenen vernehmen, sind drei Stiefelpaare auf dem holprigen Pflaster des Hofes.

Die nächsten Tage lasten schwer auf dem Berendshof und seinen Bewohnern. Das Geschehen in den Abendstunden erscheint der Frau zuweilen wie ein böser Traum, aus dem sie plötzlich zu erwachen hofft. Die Gerüchte über Aufstände mehren sich von Tag zu Tag. In den Abendstunden des 30. Oktober erscheint ein zerrissener, von der Flucht erschöpfter Mann aus dem benachbarten Kirchdorf. Was er erzählt, läßt die Beklemmung und die Unrast noch stärker werden. Vor einigen Stunden ist es in dem nur unweit entfernten Dorf Arzfeld zu der entscheidenden Begegnung zwischen französischen Truppen und dem Gros der aufständischen Bauern gekommen. Der französische Kommandant hatte den Bauernhaufen, mehr höhnisch als väterlich, aufgefordert, in aller Ruhe nach Hause zu gehen. Aus den Reihen der sich im Anblick der wohlgeordneten Streitmacht überstürzt zurückziehenden Bauern war dann plötzlich ein Schuß gefallen, der den Offizier vom Pferde warf. Darauf hatten die Soldaten voller Grimm einen Angriff auf die fliehenden Bauern unternommen und viele mit ihren Degen zu Boden gestreckt. "Dietz ist entkommen, denn ich habe ihn unterwegs getroffen. Aber man wird ihn suchen, denn er war als Anführer eingesetzt." Hastig beendet der Mann seinen Bericht und verschwindet über die Hofwiese in den nahen Wald.

Sie erwarten auf dem Berendshof Dietz in jeder Minute. Aber statt des Bauern treffen bald zwei französische Reiter ein und fragen barsch nach dem Hausherrn. Dann durchsuchen sie gründlich das Haus und die Hofgebäude. Sie verschwinden auch später nicht. Abwechselnd postieren sie sich vor dem Haus, um die Rückkehr des von ihnen gesuchten Friedensbrechers abzuwarten. Sie stehen auch noch da am Morgen des nächsten Tages. Die Posten werden erst nach fünf Tagen zurückgezogen.

Es sind fünf bittere Tage für die junge Frau. Sie darf sein Kommen nicht wünschen, und doch erhofft sie es von Stunde zu Stunde drängender. Immer wieder umkreist sie, verfolgt von den mißtrauischen Blicken der Bewacher, den Hof. Einmal ist sie sogar sicher, den verhaltenen Ruf ihres Mannes zu hören. Aber die überhitzten Sinne haben ihr wohl einen Streich gespielt.

Sie wendet sich später an die Behörden im nahegelegenen Burgstädtchen, sie ist in Luxemburg, als aus den Kasematten im Mai 1799 elf verurteilte Bauern vorgeführt und exekutiert werden, sie fragt bei anderen Teilnehmern des Aufstandes, aber niemand weiß etwas von Dietz. Ihr Hoffen schwindet von Tag zu Tag, von Monat zu Monat. In der Fülle der Arbeit, die der Hof ihr aufbürdet, bleibt ihr schließlich nur noch die tröstliche Zuversicht, mit dem verschollenen Mann dereinst in der Ewigkeit wieder vereint zu werden.

Und dies geschieht 52 Jahre später. Wieder neigt sich ein unfreundlicher Herbsttag dem Ende zu. Durch die knorrigen Buchen hinter dem Berendshof faucht ein kalter Wind und treibt sein Spiel mit den letzten braunen Blättern. An einem Fenster der Wohnstube sind die Gardinen zurückgezogen. Die alte Oma Berends hat ihren Lehnstuhl in die Nähe des Fensters gerückt und blickt in den sinkenden Tag. Tiefe Furchen hat das Leben in das alte Gesicht gegraben, doch die vielen Fältchen vereinen sich zu freundlichen Zügen. Die Last, die ihr das Schicksal aufbürdete, hat sie nicht gebrochen, wenn auch der Rücken krumm und die Finger steif geworden sind. Sie hat ihrem verschollenen Mann den Hof bewahrt und die beiden Söhne wohlerzogen. Wie schön wäre es, könnte auch Dietz noch die drei Enkelkinder sehen, die in die Herbsttage ihres Lebens den Sonnenschein der Jugend bringen! Die beiden Jungen und das Mädchen sind mit dem Vater draußen auf der Wiese. Sie wollen dabei sein, wenn die alte, buckelige Kopfweide gefällt wird, die inmitten der Hofwiese die Viehtränke markiert. Sehen kann die Oma zwar nicht mehr so weit, aber sie hört den dumpfen Klang der Axtschläge und dazwischen gelegentlich die hellen Stimmen der Kinder.

Oma Berends fühlt sich heute sehr müde. Fröstelnd zieht sie den großen schwarzen Schal enger um den Hals. Und doch bullert der Ofen in der Zimmerecke sein freundliches Lied. Der Herbst, denkt die Greisin, er ist uns alten Leuten nicht wohlgesinnt. Langsam verblaßt in der Dämmerung das weiße Gesicht hinter den Fensterscheiben.

Thet Berends läßt die Axt sinken und wischt sich den Schweiß von der Stirne. Die alte Weide ist zählebiger, als man dem hohen Stamm ansieht. Dabei hatte ihnen die Mutter schon in der Kinderzeit verboten, an der Weide hinaufzuklettern und in die dunkle Öffnung des ausgehöhlten Stammes zu blicken; sie sei morsch und könnte unter zusätzlicher Last umfallen. Seinen eigenen Sprößlingen, die ihm begierig zuschauen, will er diese Gefahr ersparen. Von neuem knirscht die Axt, fliegen die Späne. Mehr und mehr klafft der dunkle Spalt rings um die alte Weide. Jetzt stemmt sich Thet mit aller Kraft gegen den Stamm. Ächzend gibt er nach, und in langsamem Fall poltert er dumpf zur Erde. Aus der Höhlung der Weide wirbeln Staub und morsches Holz.
Thet tritt langsam näher und starrt wie gebannt zu Boden: aus der Öffnung des Weidenstammes ist ein Totenkopf herausgerollt. Und als er sich bückt, erblicken die entsetzten Augen in der Höhle des Stammes ein vollständiges Skelett, an dem noch Tuchfetzen einer Kleidung hängen.

Thet Berends schickt die Kinder, die neugierig näher kommen wollen, in den Hof zurück. Dann entfernt er vorsichtig die menschlichen Gebeine aus der Höhlung und bettet sie auf der Wiese. Als er nochmals in den Stamm hineingreift, erfaßt er einen runden Gegenstand, der sich bei näherem Zusehen als eine alte Taschenuhr erweist. Mit einiger Mühe läßt sich der Deckel des Uhrglases öffnen. Die Augen des Thet Berends weiten sich zu schreckhaftem Staunen, und das Herz schlägt ihm bis zum Halse, da er die auf dem Deckel eingravierte Schrift liest: Theodor Berends, Anno 1793. Er hat die Uhr bislang noch nie gesehen, und doch kennt er sie genau. Es ist das Hochzeitsgeschenk der Mutter an den später verschollenen Vater. Wie oft schon hat die Mutter ihren Kindern und Enkelkindern vom Vater und Großvater erzählt, der in den Wirren der Französischen Revolution den Hof verlassen mußte und nicht wiederkehrte. Und diese Erzählungen lassen Thet die furchtbare Tragödie ahnen, die sich in jenen Tagen abspielte.

Dietz hatte nach dem Bauernaufstand und geglückter Flucht am späten Abend seinen Hof aufsuchen wollen, aber die französischen Gendarmen vor dem Haus gesehen. In seiner Not hatte er sich des Versteckes in der hohlen Weide erinnert und sich in der Dunkelheit und vor der Kälte hier geborgen. Durch ihre Anwesenheit hatten die Pfosten ihm tagelang den Weg zum Haus verwehrt, und wahrscheinlich war der Vater an Entkräftung und Kälte oder vielleicht an einer Verwundung in der Weide gestorben. Dann war es auch kein Spuk gewesen, der die Mutter in jenen Tagen bei ihrem Rundgang genarrt hatte. Der Vater hatte sie zweifellos beobachtet und einen verhaltenen Ruf ausgestoßen.

Schauer der Ergriffenheit erfassen Thet Berends. Während er sich langsam dem Hof zuwendet, bemerkt er, daß die rechte Hand noch immer die Uhr umklammert. Wie soll er es der alten Mutter erzählen? Wird das Geheimnis der alten Weide nicht das noch glimmende Lebenslicht auslöschen? Er meidet den Weg zur Stube und geht in die Küche. Umringt von den drei aufgeregten Kindern erwartet seine Frau den Bericht. Dann betreten sie zögernd die Stube. Hinter der hohen Lehne des Ruhesessels ist es still. Der letzte Widerschein des Tages verklärt die friedvollen Züge der alten Frau, deren Kopf sich im Schlafe zur Seite neigt. Und da sie näher herantreten, sehen sie, daß Oma Berends eingeschlafen ist für immer.

Der Allerseelentag des Jahres 1847 lebt noch lange in der Erinnerung der Menschen jener Pfarrei weiter. Sie tragen den Sarg zum Friedhof, in dem die beiden Menschen im Tode wieder beisammen sind, denen das Leben die Gemeinsamkeit verwehrte.

 

©  Hans Theis, Neuerburg

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