Der Ruf der Taube

Komme er ohne das Tier zurück, so werde der Henker seines Amtes walten und ihn auspeitschen.


Ruf TaubeDie ganze Nacht über irrte der Junge suchend und weinend durch den Busch, über Waldwiesen und Ginsterfelder, durch Feld und Wald, aber nirgends konnte er die Kuh finden. Vor Müdigkeit taumelnd und fast betäubt vor Angst betrat er am Morgen wieder den Schloßhof.


Der Graf aber war ein harter Mann und befahl dem Henker, seine Pflicht zu tun. Nackt und schluchzend stand der Junge, an einen Pfahl gebunden, auf dem Schloßhof und mußte zusehen, wie der Henker die Lederpeitschen zurechtlegte. In dieser großen Not und Bedrängnis flehte er zu seinem Schutzengel um Hilfe.


Schon hob der Henker die Peitsche, als plötzlich vom Turm des Burgfrieds eine Taube ihr alltägliches Lied rief. Aber alle, die diese Stimme hörten, der Junge, der Henker, der Graf und mitleidig zuschauendes Schloßgesinde, vernahmen aus dem Taubenlied den Ruf: "Loß d'Hirt gon, Kuh kinnt! - Loß d'n Hirt gon, Kuh kinnt! - Guck!" Und als man vor das Schloßtor eilte, da sah man wirklich die verlorengegangene Kuh sich der Burg nähern.


Der Graf erließ dem Hirten gerührt die Strafe. Und da er selbst kinderlos war, nahm er den Jungen, der so offenbar unter Gottes Schutz stand, an Kindes statt an. Später wurde der Hirt selbst ein mächtiger Graf, aber nie hart und unbarmherzig zu seinen Untergebenen, denn der Ruf der Tauben erinnerte ihn stets an seine schwerste Stunde.


Und auch wir können heute noch aus dem Ruf der Tauben jene Mahnung zur Geduld und Herzensgüte hören: "Loß d'Hirt gon, Kuh kinnt! - Guck!"